Ahnenstories

Auch die Genealogie ist eine exakte Wissenschaft. Aber sie kämpft mit Unwägbarkeiten. Man kann so vieles ausschließen. Und dann gibt es doch wieder die fehlenden Genauigkeiten. Gewiss sagen kann man vieles nicht. Einmal falsch im Stammbaum abgebogen und viel Arbeit war umsonst. Und dann wieder doch nicht. Denn auch „das Andere“ kann ja interessant sein. Vielleicht geht es bei dem „Anderen“ ja um die Zukunft. Die eigenen Ahnen sind ja nur die Vergangenheit. Geschichtlich interessant für die, die sich für Geschichte interessieren. Man lernt über Genealogie auf jeden Fall etwas über die Geschichte. Wenn es nicht nur um Namen und Daten geht.

Also kann man bei der genealogischen Forschung drei Arten von Stories unterscheiden:

  1. die Stories über die Personen, die aufgrund von falschen Spuren in das Blickfeld gerieten
  2. die Stories über Ahnen, an denen die eigenen Gene nicht mehr beteiligt waren, weil die nächste Generation im Stammbaum schon existierte
  3. die Stories über Ahnen, an denen die eigenen Gene beteiligt waren; die nächste Generation existierte noch nicht

Z.B. stamme ich zwar vom Braunschweiger Altstadt-Bürgermeister Autor Pralle, dem vielleicht mächtigsten Mann der Stadt Braunschweig über einen gewissen Zeitraum in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ab. Aber die nächste Generation existierte schon. Also ist der Blick meiner Gene auf das Bürgermeisteramt im Altstadtrathaus zu dieser Zeit nicht der jenes Protagonisten der regionalen Geschichte, sondern der eines seiner vielen Kinder, die ihn dort besuchten. Ein großer Unterschied. Meine Gene waren aber auch schon öfter „Bürgermeister“. Allerdings besitze ich jene Gene noch? Wie viele von wem? Der Mensch besitzt ja nur eine bestimmte Anzahl von Genen. Bei Vorfahren aus so vergangenen Zeiten – wie viele Gene befinden sich von ihnen noch in meinem Genom? Das Kurzschließen von Genetik und Genealogie kann da sicher einiges Interessantes zu Tage fördern. Aber als Soziologe möchte ich auf die Genetik nicht angewiesen sein. Ich will die Kategorie des „Unterbewusstseins“ nicht aufgeben.

Also hier die erste Story aus der Kategorie 3. . An ihr waren meine Gene beteiligt. Ein Splitter eines Vor-Selbsts in einer anderen Zeit. Ich bin ein großer Filmfan. Die erste Story gehört in das Genre Comedy/Slapstick. Sie befindet sich in der Zimmerischen Chronik, aus der ich schon auf meinem Twitter-Account zitiert hatte. Sie wird dort sehr lebendig und volksnah geschildert. Viele Sittengemälde können sich zu einem Raum der geschichtlichen Darstellung für eine bestimmte Epoche fügen. Man kann noch viel dazuerzählen. Weil diese Stories ja nicht in einem geschichtsleeren Raum stattfinden. Oft sind die Stories im Nachhinein komplexer als man am Anfang denkt. Vexierbilder. Mythen. Orakel der Zeit, die uns davon abhalten, wirklich frei zu sein(?), wie es jemand Anderes formulierte. Oder zumindest davon, die Zeit anders zu verbringen?

  1. Comedy und Slapstick: Hans Schott bei Johannes Werner von Zimmern oder Wie der Adel sich am Volk ergötzt

Mein Vorfahr Hans Schott, ein Kürschner aus Ebingen, war in einer vorherigen Ehe mit einer unehelichen Tochter von Hugo IX. von Werdenberg (bei wikipedia Hugo XI. von Werdenberg) verheiratet: Leonora Werdenberg. Wenn ich alle Orte in Baden-Württemberg aufzählen würde, aus denen meine Vorfahren stammen, wäre es halb Baden-Württemberg. Nun begab sich nach der Zimmerischen Chronik folgende Geschichte. Sie wird dort so lebendig erzählt, dass ich sie per Copy und Paste aus wikisource hier einfüge:

Dis capitel sagt von etlichen lecherlichen handlungen zwischen herr Hannsen Weingebern und Schotten von Ebingen, auch wie herr Gotfridt Wernher freiherr zue Zimbern der jungen graven von Tengen formünder worden, und darbei vom geschlecht Thengen.

[674] Als ich mir fürgenomen, die zimbrischen historien und was sich in sollichem geschlecht aubenteurlichs, guets und bös, iederzeit begeben, nachlengs zu schreiben, kan ich nit erachten, auch die handlungen, so in schimpf und zu frölichen zeiten fürgangen, mit stillschweigen zu umbgeen seien, dann, da ich gern vil höcher res gestas anziehen wölt, mueß ich doch bei denen sachen bleiben, die bei gegenwürtigen jaren fürgefallen. Es haben die baid herren gebrüeder, herr Johanns Wernher und herr Gotfridt Wernher, umb dise jar vil kurzweil gehapt mit aim alten pfaffen, hieß herr Hanns Weingeber, auch mit aim kürsner, sas zu Ebingen, hieß Hanns Schott, war der, so die Lenora Werdenbergerin, graf Haugen von Werdenberg ledige bastardtdochter, verheirat, wiewol sie derzeit von ime geschaiden.

Er war ain holtseliger, aber ain übel schwerender mentsch. Diese baid, der pfaff und dann der Schott, kamen vil zu den herren und liesen sich als kurzweilig leut fatzen. Der pfaff kam uf ain zeit zu herr Johanns Wernhern geen Falkenstain. Wie man nun im obern stüblin ob dem morgenimbis, do kompt der Schott ungeferdt auch an die porten, begert hinein. Herr Johanns Wernher befalch, in geschwindt einzulassen und hinauf zue füeren, doch im darbei nichs vom pfaffen, das er vorhanden, zu vermelden. Wie Schott hinauf kompt, muest der pfaff von der taffel ufsteen und sich hünder den offen verbergen, es ward im auch von herr Johannsen Wernhern verbotten, er hörte gleich, was er wölte, hünder dem offen zu bleiben und sich gar nit vernemen zu lassen.

Als Schott in die stuben tritt, muest er gleich an disch nider sitzen, wust nichs vom pfaffen zu sagen, der hünder dem offen stande. Herr Johanns Wernher empfieng Schotten mit freundtlichen worten und under anderm sagt er im, das herr Hanns Weingeber bei zwai stunden bei ime abgeschaiden und übernacht aldo were gewesen. Nun war der Schott dem pfaffen heimlich feindt, so war der pfaff im nit holdt, wie dann das handtwerk ainandern hast und feindet. Wie nun der Schott vernimpt, das der pfaff schon hinweg, do sprücht er: »Ach des vollen böswichts pfaffen! er ist doch nit ainer linsen wert; wie megen Ewer Gnaden ein solchen erzbuben und verhurten pfaffen im haus gedulden? die stegen gehört er hinab!« Der pfaff hört dise wort alle hünderm offen. Die verdroßen ine so übel, das er von sinnen megt kommen sein, iedoch von gehaiß und bevelchs wegen herr Johann Wernhers do enthielt er sich, das er hünder dem ofen blib.

Der Schott, uf anreizen herr Johann Wernhers ließ sein reden nit vom pfaffen, sprechendt: »Warlich, es ist ein öder pfaff, er hat manichem biderman sein weib und kinder beschüssen und ist darneben alle sein sachen uf den schleg und straß gericht; daheim lept er wie ain hundt. Kem er ie mir nur ainmal ins haus, ich welt ine alle die stegen hinein werfen.« Der pfaff ward ab disen worten so gar entricht, das er im nit lenger kunt entziehen, sprang hünder dem offen herfür, dem Schotten ins har, sprechendt: »Du alter, verlogner beswicht, was schmechestu mich?« So war Schott auch nit unbehendt, wie er den pfaffen ersicht und im nehert, do schlegt er ine an hals, das im mundt und nassen übergieng und schweist; somma, sie hielten ain guets schulrechtlin mit ainandern und streckt ie ainer dem andern den bogen nach allem vortel.

Herr Johanns Wernher und alle umbstender wolten sich diser kirweihe zu krank lachen. So dorft auch niemands ohne befelch schaiden. Wie sie nun ainandern zu baiden thailen ein guete weil gerauft, kretzet und geschlagen hetten, das es herr Johansen Wernhern zeit bedauchte, do wank er den dienern, auch half er selbs friden machen und sie von ainandern pringen. Also name herr Johanns Wernher ein ieden uf ain ort und verainiget sie nach langer underhandlung wider. Indess do richten die diener ein frischen disch zu; do wardt die verainigung mit wein becreftiget, das der pfaff und Schott ainandern verzigen und vergeben unds ainandern wider brachten. War schon der pfaff übel gerauft und geschlagen worden, so war es doch, ob Got will, nit mehr war und war auch der weihe ohne schaden beschehen. [675] Umb den Schotten dorft es nit vil; dann het ime der pfaff schon das antzlüt übel zerkretzt, so war es doch umb das hüpsch jungkfrawenangesicht ein schlechter schadt. Er war sonst ein ungeschafen man, darumb gefiel er auch seim weib nit, der Lenora Werdenbergerin.“

An anderer Stelle in der Zimmerischen Chronik wird darüber berichtet, wie Hans Schott sich von seiner vorherigen Ehefrau wegen ihres Lebenswandels distanzierte.

(XXX. Realistischer Kriegsfilm und Horror: ein altes Pfarrersehepaar wird Opfer von Soldatengewalt

Die zweite Story gehört zur Kategorie 2. . Es handelt sich um ein altes Pfarrersehepaar, das für mordende Soldatenhorden geeignete Opfer abgab. Es handelt sich vielleicht um eine der traurigsten Ahnenstories. Auf eine eher lustige Geschichte aus dieser Zeit(der Dreißigjährige Krieg) hatte ich schon auf Twitter hingewiesen. Da erlaubten sich die Soldaten aber eher nur einen Scherz. Bei dieser Story allerdings nicht. Es gibt natürlich sehr, sehr viele traurige Stories aus dieser Zeit. Waren der Pfarrersfrau die Vermögenswerte der Gemeinde wichtiger als ihr eigenes Leben? — Letztendlich ist diese Geschichte nicht unbedingt berichtenswert, da sie im Dreißigjährigen Krieg nichts Besonderes darstellt. Eine Zeit von Mord und Totschlag.)

2. Zwei Morde

2.a. Psychologischer Krimi: Mord als Effekt/Unfall und 2.b Moralischer Krimi: Mord aus Affekt/Emotionen

Die zweite und dritte Story gehören ebenfalls zur Kategorie 2. . Die nächste Generation existierte jeweils schon. In beiden Fällen Töchter. Es handelt sich um zwei Morde. Jeweils wurde über diese Fälle von offizieller Seite geurteilt, dass sie ohne Ursache geschahen. Na, was wußten die schon! Nicht meine Gene mordeten, sondern Vorfahren von mir. In dem zweiten Fall(Mord aus Affekt/Emotionen) musste mein Vorfahr mit dem Tode dafür bezahlen. Gut zwei Jahre vor Henning Brabandt wurde ein Vorfahr von mir hingerichtet. Allerdings von Wolfenbüttler und nicht von Braunschweiger Seite. „Nur“ enthauptet und nicht massakriert. Im ersten Fall ist der andere Vorfahr mit temporärer Unfreiheit davongekommen. Er war von niederem Adel. Der erste Fall fand 68 Jahre vor dem zweiten statt und war eigentlich hinterhältiger. Aber vielleicht auch gar nicht Absicht. Verwechslung von Fiktion und Wirklichkeit? Diese zwei Morde waren die einzigen von der Justiz behandelten Morde, die ich bei Personen in meinem Stammbaum nach Luthers Thesenanschlag bisher feststellen konnte. Ansonsten gab es sicherlich noch Töten im Krieg, aber keine solchen „Morde“.

Wenn es nur diese zwei Morde nach Luthers Thesenanschlag geben würde, wäre das wirklich komisch, denn die Umstände der Morde sind fast gegensätzlich. Der 1534 verurteilte Mord fand ganz im Geheimen statt, sodass die Tat für den Täter fast ein Geheimnis war und nur durch den Effekt war klar, dass sie passiert ist. Der Schuss wurde abgegeben, der Mann ist tot. Bei dem Opfer wird nur die öffentliche Funktion angegeben, doch sein Name wird nicht genannt. In den alten und neuen gedruckten Chroniken wird die Tat nicht erwähnt. Der Täter musste dafür mit temporärer Unfreiheit bezahlen, aber in den Chroniken wird er als lokaler Förderer und Beschirmer der Reformation gewürdigt. Nach seiner Tat bürgten für ihn mehr als ein Dutzend Adlige. Die Tat geschah im Haus einer anderen, zu der Zeit schon höher stehenden adligen Familie. Nicht in der Öffentlichkeit. Es wäre eine Tat von besonderer Heimtücke und Feigheit, wenn sie denn bewusst geschehen wäre. Ein Schuss in ein anderes Zimmer wurde durch eine kleine Öffnung abgegeben. Also da ist das Opfer und hier bin ich und nur durch die Technik vermittelt gibt es die Möglichkeit des Verschwindens des Opfers, wo doch Gedanken gereicht hätten. Die Tat fand gewissermaßen teilweise im Virtuellen statt. Man vergleiche dazu z.B das Milgram-Experiment oder den Drohnenkrieg. Nun steht das Opfer, ein öffentlicher Funktionsträger für das Ganze, und die Tat war vielleicht dadurch motiviert, dass das Ganze in den Augen des Täters nicht von dieser Person angemessen vertreten werden konnte. Durch den Täter und die Physik des abgegebenen Schusses dagegen schon?

Ganz anders verhält es sich bei dem Mord von 1602. Dort ging es nicht um die Repräsentation des Ganzen, sondern um das Besondere an sich. Fast total gegensätzlich fand er nicht im Geheimen durch einen Schuss durch eine kleine Öffnung statt, sondern das Opfer wurde mit einem Messer bei einer öffentlichen lokalen Versammlung erstochen. Hier gibt es im Gegensatz zum Mord an einem öffentlichen Funktionsträger in dem Haus eines anderen Geschlechts eine lange gewachsene, intime lokale Beziehung zwischen Opferfamilie und Täterfamilie. Hier geht es zuerst um die Aufrechterhaltung der Differenz und nicht um die Repräsentation des Ganzen. Es gab die Gefahr der Verflachung und Mittelmäßigkeit. Das Opfer kam der Familie des Täters zu nahe und untergrub seine Autorität. Von der Vorgeschichte selber jedoch ist nur wenig bekannt. Einige Rahmenbedingungen und symbolische Signale schon. Die Nachgeschichte der Tat ist allerdings dann eigenartig. Eine Beziehung zur Hinrichtung von Henning Brabandt konnte ich jedoch nicht feststellen. Es geht stattdessen um eine Vorortsgeschichte mit einem Vorortbezug. Der Name des Täters verweist etymologisch auf den Heger des Glänzenden und der Name des Opfers auf den Ansteckenden. Im Dreißigjährigen Krieg wird der Sohn des Opfers genau in dem Waldstück ums Leben kommen, in dem mein Vorfahr enthauptet worden ist. Und auch er wird erstochen. Und die Frau dieses Sohnes des Opfers wird als Hexe hingerichtet werden. Was war nun ansteckender: das Opfer, die Tat meines Vorfahren oder schlug die Enthauptung meines Vorfahren Wellen im Sozialgefüge? Oder nur Zufall???

(YYY. Derbe Lustspiel-Serie über Weltdorf-Punks in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg zwischen Helmstedt und Königslutter

Über die Hauptfigur dieser Serie hatte ich auch schon auf Twitter berichtet. Es handelt sich auch um eine Story der 2. Kategorie. Diese Hauptfigur besitzt mehr Tiefe als ihr die frömmelnde, sich wichtigtuende Geistlichkeit zugestehen will. Durch sie wurde er mir überhaupt erst als „Persönlichkeit“ bekannt. – Für die Handlungsstränge einer Serie reichen meine Informationen nicht.)