Musik(II)

Jochen Distelmeyer: Heavy (veröffentlicht im Sept. 2009)

Jochen Distelmeyer versucht sich auf dieser CD das erste Mal ambitioniert außerhalb des anscheinend abgeschlossenen Blumfeld-Band-Kontextes. “Heavy” heißt sie, was ungefähr so viel bedeutet wie: es stecke in ihr viel von ihm selber drin und der Konnex, den er stiftet, könne den Zuhörer anhand der Themen, um die es geht, nicht kalt lassen.

Diese Musikaufzeichnung ist als eine Einheit gestaltet. Es gibt eine hineinführende Musik(“Regen”), nur Stimme, die den Zuhörer gewissermaßen ins Offene hineinstößt und eine hinausführende, die sagt: hier gebe ich, Jochen D., die Kontrolle ab. Wenn die “Murmel” (“Heavy”) erst einmal geworfen ist, stößt sie viele andere an und die Charts können das Ergebnis vielleicht nicht summarisch erfassen.

Die Lieder erfüllen songwritermäßig einen Mindestanspruch. Sie beschäftigen die Anteilnahme des Zuhörers während des Hörens. Ob die CD gelungen ist, ist eine andere Frage. Wenn man Jochen Distelmeyer den Titel “Pop-Artist” (was er musiklandschaftlich ohne Zweifel ist) nicht verweigert, bezieht man dann nicht Stellung gegenüber anderen Barden, die es auch versuchen, aber popkulturell-strategisch im Mittelfeld herumkreuchen, obwohl ihre Musik genauso Ausdruck ihres Selbsts ist wie “Heavy” der von Jochen D. ? Das ist eine Frage, die ich in dieser Kritik nicht beantworten will, weil ich dann ohne Zweifel meine Voreingenommenheiten zur Schau stellen würde, die sich nicht ziemt. Ich bin sogar zu faul, Stellung zu beziehen und stelle mich nicht ins Offene.

Für mich steht der Gebrauchs-Aspekt von Pop (fast) immer im Vordergrund, dem sich Jochen D. auf “Heavy” wieder annähert, aber nicht ohne sich als “Wirklichkeits-Eindringling”, der er in erster Linie ist, dann doch als Fuchs die Gans zu holen. Nur mit unseren “Mäusen” lässt er sich nicht abspeisen. Beim “Wirklichkeits-Eindringling” liegen Model-Role und Role-Model schon ziemlich eng beieinander. Jochen Distelmeyer singt über sein Leben und sein Leben ist erklärtermaßen die Musik und als Praxis Songwriting (, etc.) .

Der Aufbau des Albums ist gewissermaßen thematisch spiegelbildlich gestaltet, was die Liederreihenfolge anbelangt (text-Text=form-Form??). Nur der zweite und der vorletzte Song befassen sich wirklich mit gesamtgesellschaftlich ernsten Problemen. Bei “Wohin mit dem Hass?”(2.Song) sehr direkt, aber mit der Pointe der Umdirektion. Denn wenn wir hassen, dann auch Jochen D.? The singer uses the power of his voice. Und seine Stimme vergilt Gleiches mit Gleichem: Hass mit Hass. Da der notwendige Gegensatz zum Hass aber die Liebe ist, verliert er – nur noch sich selbst gegenüberstehend – seine zerstörerische Kraft.

Demgegenüber finden wir bei “Jenfeld-Mädchen” einen hermeneutischen Wirbel vor. Ein Liebeslied stellt uns mitten in das Zimmer einer Sterbengelassenen, die nicht zu einem Begriff ihrer eigenen Existenz kommen sollte. Jochen D. tut es für sie (für uns?). Rhizomatisch wirkungsvoller wäre es sicherlich gewesen (und einige Musikschaffende zogen diese Konsequenz), auch mit den Zuhörern “den ganzen Weg” zu gehen. Denn wo liegt “Jenfeld” wirklich? Gibt es es überhaupt?! In welches Netz falle ich, bevor ich auf dem Abgrund aufschlage? Doch wohl in mein eigenes.

Beim dritten und beim drittletzten Song ist das Sänger-Ego selber das Thema? “Er” (3.Song) ist ein Spiegel-Spiel. Interessant und “jed -er” (rechne mich rein willkürlich dazu) kennt diese Situation! Ein Interlude zwischen den zwei Single-Auskoppelungen. “Hiob” dagegen ist Häutung in Echtzeit. Was bin ich alles, was ich nicht bin? Und Jochen D. wirft sich in Dichter-Pose: “Und meine Worte sind/ ungestümer Wind/ Geschrieben in den Staub der Erde:”Komm und wehr dich!”“.

Im vierten und dem viertletzten Song geht es um das reine Gefühl der Liebe. Im vierten Song “Lass uns Liebe sein” geschieht dies schon fast beziehungsreligiös, allgemein-programmatisch. Ein etwas anderer ass-kicking Song. Im viertletzten “Nur mit dir” dagegen hat der Sänger Bock, aber die Liebste hat einen anderen (und “D.,Jochen” hat Bock, wie Stefan Zauner von der Münchner Freiheit zu singen) .

Im fünften und fünftletzten beschreibt Jochen D. die Entfremdung. In “Bleiben und Gehen” (5.Song) die Entfremdung in der Partnerschaft (“Irgendwann waren wir zu wenig/ füreinander da”) und dafür lässt er PrefabSproutmäßig die Guitarrenfunken ersterbend in das Wasser tauchen. In “Hinter der Musik” benutzt er Metaphern, um auf die Entfremdung in “Gesellschaft” von Gesellschaftern aufmerksam zu machen, die sich durch Medien oder auf der Bühne mitteilen. Der Bezug auf den anderen wird zum Bezug auf sich selbst und umgekehrt (“Niemand ist mehr da/ und Gott ist nur ein Kind”).

Es gibt in diesem spiegelbildlichen Aufbau von “Heavy” (den ich der CD vielleicht auch nur aufgeprägt habe!?) keine Katharsis, auch wenn die Drums etwas hart auf das Cerebrum einschlagen, damit es das Kind der Botschaft austrägt, was den softeren Nummern nicht unbedingt gut tut.

Der Wirklichkeits-Eindringling Jochen Distelmeyer hat seine Techniken dennoch perfektioniert und glaubt pfiffig genug zu sein, ohne (Blumfeld-)Tarnung auszukommen. Er erscheint hier mehr als der “emotional burglar” und weniger als der Pop-HTML-Bademeister, der die einfallenden Texte in seinen Liedern mit den Wortwächtern seiner Hypertext-Markup-Language gefangen nimmt. Oder ist aus dem Bademeister, der das Pool-geschehen beäugt und die Schwächeren vor den Stärkeren zu schützen meint, unter der Hand ein Bademörder geworden, der an die Texte metaphysische Lichter, die einstmals Freudenfeuer genannt wurden, bindet und sie so in der Tiefe (sichtbar?) verankert?

Freiwillige Mediensozialisation – eigener Fall

Musik und Filme können Spaß machen und man kann sogar seine Lebensentwürfe nach ihnen ausrichten. Sie wollen nicht selten Sehnsüchte erfüllen oder erwecken sie erst. So merkt auch das Kind, dass es etwas Gemeinsames gibt, das die Menschen bewegen kann und extra dafür Verarbeitungsstrukturen geschaffen werden. Außerdem gibt es anscheinend Sachen, die vielen Menschen gleichzeitig gefallen und ihr Freiheitsgefühl ausdrücken. Man kann Töne zu Wohlklang auf vielerlei Weise immer wieder neu organisieren. Es gibt Moden, die die Jugend dazu benutzt, eigene Bereiche abzustecken, von denen die Erwachsenen ferngehalten werden, weil sie es sowieso nicht verstehen würden.

Das wesentliche Medium, mit dem ich mich zuerst auseinanderzusetzen hatte, war das Fernsehen. Ganz einfach, weil die Familie vor ihm häufig zusammenkam: die Erwachsenen kamen vor ihm zur Ruhe, die Kinder manchmal weniger. Es war auch ein Ort der kleinen Züchtigungen. Man hatte sich ruhig und sittsam zu verhalten.

Die Welt wird so ins Heim gebracht und man wird mit den Widersprüchen der Welt konfrontiert – ohne an ihr in der Tiefe ihres Raumes teilnehmen zu brauchen.

Wie stark der Einfluss der Medien auf Lebensentwürfe sein kann, beweist mein eigener Fall. Mein erstes größeres Fernsehereignis, das bei mir diesbezüglich etwas ausgelöst hat, war die Fußballweltmeisterschaft 1974. So fand ich zuerst – durch das Fernsehen vermittelt – die Sportart, die mich auch aktiv am meisten begeistern sollte. Neun Jahre habe ich von da an im Verein Fußball gespielt und gehörte eigentlich immer zu den Besseren. Zuletzt war ich Mannschaftskapitän. Aber nur für kurze Zeit, denn dann verlor ich die Lust und schließlich gab ich es auf, in der Oberklasse mitzuspielen.

U.a. auch deshalb, weil zuviele andere Interessen dazwischen gekommen waren.

Der erste Spielfilm, der mich beeindruckte, war ein Film mit dem Sänger Salvatore Adamo in der Hauptrolle. Es war ebenfalls in der ersten Hälfte der siebziger Jahre und ich war allein zu Hause und hatte die Muße, einen Spielfilm ganz zu sehen. Das sind aber sehr frühe Kindheitserinnerungen und ich müsste lügen, wenn ich etwas Genaueres über die Handlung sagen sollte. Jedenfalls verband mich eine tiefe Solidarität mit der von ihm gespielten Figur.

Ansonsten hinterließen die Winnetou-Filme im Fernsehen die stärksten Spielfilmeindrücke der frühen Siebziger bei mir. Die sah ich aber nicht alleine. Ich muss sagen, das hatte schon etwas Magisches. Das Wohnzimmer war die erweiterte Landschaft der Filmhandlung und durch die passende Musik wurde die empathische Partizipation wirklich hervorragend hergestellt. Diese Filme waren wie gemacht für uns Kinder.

Musik gehörte zu den Filmen oder Serien, die mich in den siebziger Jahren begeisterten wie selbstverständlich dazu. Meine liebsten Kinofilme waren Bud Spencer-Filme und auch bei ihnen gibt es meistens nicht nur die Prügelszenen-Geräuschkulisse, sondern auch noch einen komödiantischen Soundtrack zu hören. Das passte damals für mich ganz gut zusammen. Meine Lieblings-Serien in den Siebzigern waren zuerst “Raumschiff Enterprise”, wo man fast jedes Wochenende beim Kontaktaufnehmen mit fremden Welten dabeisein konnte, und danach “Mit Schirm, Charme und Melone”. Auch die ungarische Zeichentrickserie “Adolars phantastische Abenteuer” beflügelte meine Phantasie. Außerdem verschlang ich Comics (v.a. “Superman”).

Sport und Musik sind beide zum kulturellen Bereich zu rechnen und dieser kommt mit ihnen erst zur Blüte. Das, was ich in der Musik und dem Sport als populären Phänomenen mochte, besaß eine gewisse Natürlichkeit, eine bestimmte Dynamik, Ausstrahlung, Atmosphäre oder ein bestimmtes Flair. Anders wär eine Identifikation von meiner Seite nicht möglich gewesen.

Das zweite Sportereignis, das mich in den Bann schlug, waren die Olympischen Winterspiele 1976 und die umwerfende Natürlichkeit, mit der Rosi Mittermaier die Skipiste herunterfuhr und auch noch gewann, hatte es mir angetan. In ihren sportlichen Elan und ihren reinen Enthusiasmus war ich fast verliebt. Eigentlich kam danach nichts mehr heran, weder die Boxkämpfe von Muhammad Ali, für die ich länger aufblieb, und noch nicht einmal die Europapokal-Spiele des FC Bayern München mit Gerd Müller in der Angriffsspitze und auch kein Nationalmannschaftsspiel. Keine andere Sportlerin sollte mich (mit ihrer Ausstrahlung und Leistung!) ähnlich begeistern. Aber es gab ja nicht nur die großen Sportereignisse, sondern auch die kleinen für die Kleinen. Jeden Sonntag um 10 Uhr gab es im DDR-Fernsehen “Mach mit, mach’s nach, mach’s besser” mit Adi und diese Sendung zu sehen war für mich in meiner vorpubertären Zeit eine Pflicht, die ich gerne wahrnahm.

Für Musik alleine konnte ich mich bis dahin noch nicht begeistern. Ich spielte kein Instrument und wenn wir in der Schule dafür begeistert werden sollten, war das für mich ein fremdes Königreich, in dem ich kein Narr sein wollte. Ich wollte es noch nicht einmal probieren. Das Auflegen von Schallplatten hatte mich schon eher interessiert. Neil Diamond fand ich nicht schlecht und Abba sogar ganz gut. Aber man kann von keiner Begeisterung sprechen. Agnetha Fältskog hatte einen natürlichen Sexappeal. Mit ihrer Musik lieferten sie auch kein Weltbild mit, das eine umfassende Identifikation erlaubt hätte. Sie machten ganz nette Musik. Elvis war dagegen ein Rebell und wenn ich alte Singles von ihm in die Hände bekam, erwartete ich etwas Besonderes. Wenn auch viele seine Filme albern finden, ich hatte mich auf jeden neuen Film mit ihm gefreut. Das war für mich damals mehr als nur Musik; da forderte eine Generation ganz unverblümt die Freiheiten, auf die ihre Eltern nicht vorbereitet waren. Für mich selber war das ein Beispiel. Elvis war ja nicht das genuine Sprachrohr/ der genuine Hüftschwenker meiner Generation, sondern der vorherigen. Dass er sich benutzen ließ, sah ich damals noch nicht. Er schien im Gegenteil sehr viel zurückzubekommen für seine Eigenart.

Aber das Problem beim Fernsehen oder bei den Schallplatten war, dass immer etwas fehlte: beim Fernsehen die dritte Dimension (die vierte auch) und bei den Schallplatten konnte man nur einer Stimme zuhören. Es fehlte die Präsenz des Menschen selber. Es sind im Grunde kalte Objekte, die eine gewisse Tristesse umgibt. Live-Veranstaltungen bringen dagegen etwas Leben in die Fernsehunterhaltung. Ein prominentes Beispiel für viele deutsche Wohnzimmer in den Siebzigern sicherlich: Rudi Carells “Am laufenden Band”. So kann der Fernsehabend zum Happening werden. Fernsehnation. Und die Familienabende in den Siebzigern, die von Rudi Carell rundum animiert worden sind, waren vielleicht die locker-wildesten.

Was das bewusste Betreten eines Pfades in meiner musikalischen Mediensozialisation anbetrifft, war Elvis der Startpunkt. Er hatte als erster Prominenter, den ich kannte, seine Musik auch bewusst gelebt. Danach konnte es nicht nur um die Symbiose zwischen Person und Musik gehen, sondern es musste Möglichkeiten geben, den Wohlklang zu steigern. Und da wurden ja Möglichkeiten ausgetestet in den sechziger Jahren. Durch die Fernsehwerbung stieß ich auf die Hollies, die das in den Sechzigern ganz ansprechend in den Griff bekommen hatten. Auf die Dauer war das jedoch nur Musik, die zwar einen ersten Eindruck der Möglichkeiten der Popmusik geben konnte. Der gesellschaftliche Aspekt musste aber einerseits durch die eigene Generationszugehörigkeit dazukommen und andererseits auch wieder zurückgeworfen werden. Danach sollte es erst richtig losgehen: was tat sich in meiner Generation? Durch das Hören des NDR-Jugendradios konnte man sich mit der ganzen Bandbreite der Popmusik beschallen lassen. Es ging nicht selten querbeet und es gab sogar genug deutsche Bands, die zu ihrer Generation(oder den “etwas” Jüngeren) sprachen. Die erste deutsche Band, die ich gut fand, waren “Nichts”, auf die ich durch Klassenkameraden stoß, und dann der Empfehlung einer Hifi-Zeitschrift folgend “The Tanzdiele”, deren Nachfolgeband “Tanzdiebe” mir auch gut gefiel. Anstatt einigen wenigen Bezugspunkten gab es Konkurrenz zwischen fast unzähligen verschiedenen. Radiohören wurde zu einem aufregendem Freizeitvergnügen. Die Mixtapes stapelten sich und man wollte das eigene Tape im Auto auf dem Weg zum Badesee hören.

Das ging mit einer Bewusstseinsbildung bezüglich des (sagen wir mal) reflexiven Potentials der Musik einher. Was kann man mit Musik noch transportieren? Geht es nur um Paarbildung bzw. um die Sehnsüchte der zwei dazu gehörigen Individuen? Oder konnte man auch etwas zum Makrobereich aussagen – mit dem Ziel der Veränderung zum Besseren durch kollektive Bewusstseinsbildungen? Mit der endgültig erwachten Sexualität des “normalen” jungen Menschen sollte auch der Wunsch wachsen, Verantwortung zu übernehmen und dann sind vielleicht andere Vorbilder nötig als die, die man vom Mainstream präsentiert bekommt. Die Fernsehwerbung reicht dann nicht aus und auch nicht die von einem Radio-Diskjockey irgendwie aneinandergereihten Songs. Die Band oder der Künstler müssen es auch wirklich ausdrücken wollen, was sie auf Tonträger pressen. Die bewusste Wahl wird entscheidend, die man auch anders treffen kann und man will wissen, warum so und nicht anders. Die Prämisse dabei ist, dass es gute Gründe für die Form des Songtextes oder der Melodien geben muss, in die der Inhalt gepackt wird. Und im Inhalt sollte es um Themen gehen, die nicht nur Einzelne (die Band z.B.) betreffen, sondern die auch etwas über die Risiken und Chancen ausdrücken, denen sich die ganze Generation gegenübersieht. Und auf welche künstlerischen Inhalte kommen die Künstler, um etwas über Individuenübergreifendes auszusagen? Können sie ihre Verschiedenheit vom Mainstream überhaupt ausdrücken und mit welcher Natürlichkeit? Über welche Zwischenpunkte, auf welchem Wege kommt man an die Voraussetzungen des eigenen Handelns heran und auf welchem an die Voraussetzungen der Voraussetzungen? Die Voraussetzung für alle ist dabei die Notwendigkeit des verschiedenen Weges. Man hat die Wahl zwischen verschiedenen Abbiegungen und jeder hat diese Wahl. So hat man trotz der verschiedenen Landschaften, in denen man sich vielleicht bewegt, der verschiedenen Ausgangspunkte, von denen man losgeht, etwas gemein. Die Suche nach dem Anderen konnte beginnen und sie beginnt fast plötzlich.

1981 begann ich mich politisch zu positionieren. Ich war ökologisch orientiert. Die Problematik des Ozonlochs war damals schon in den Diskussionen präsent. Als politische Richtung kam nur der Anarchismus in Frage. Aber nicht der Anarchismus der Attentäter, sondern ein konstruktiver sozial-mutualistischer. Die von mir gewünschte parlamentarische Alternative im Jahre 1982 wäre die “Sozial-Mutualistische Partei Deutschlands” gewesen. Die Ansätze von Marx waren mir zu halbherzig und zu unehrlich. In diesem Alter stieg ich natürlich noch nicht in eine Theoriebildung ein, sondern es ging ganz grundsätzlich um den vielversprechendsten Ansatz zum zukünftigen Zusammenleben, um Utopien, die es wert sein könnten, dass man seine Kräfte in sie investiert.

Es könnte gute Gründe geben, mehr über das zu erfahren, was die Künstler produzieren. Hat ihr Handeln Bedeutung und wer kann uns etwas darüber sagen? Oder ist die Musik vielleicht genug? Kann sie für sich selber sprechen? Wieviele gibt es, die verstehen und verstehen diese sich gegenseitig?

Ich hatte drei Fixpunkte auf meiner Suche, nachdem mir die Beatles zwar ein Feld eröffneten, aber nicht die nötigen Rezepte für die kommenden Probleme zu haben schienen. Es war genauso wie bei Elvis die Musik der vorherigen Generation. Der erste Fixpunkt war Peter Gabriel, dessen erstes deutsches Album uns im Musikunterricht nahegebracht wurde. Da stimmte anscheinend einiges in der Verbindung von Musik und Text. Diese Ader sollte genug Erz für fast zwei Jahre haben, was in der frühen Pubertät eine ziemlich lange Zeitspanne darstellt.

Der zweite Fixpunkt kam danach durch das Comeback von King Crimson mit Adrian Belew als Sänger hinzu, von denen sie eine Konzert-Aufzeichnung im Fernsehen brachten, und mit denen sich ein längerer Artikel in einer Hifi-Zeitschrift beschäftigte. Die Unverstelltheit und die Natürlichkeit dieses Live-Auftritts waren etwas Neues für mich. Ich kaufte mir das Album “Discipline” und das war ein richtiges “Musik-Album”, von vorne bis hinten konsistent und mit aufregender Musik und expressiver Kraft, die mich nicht kalt ließ.

Der dritte Fixpunkt war U2. Die Guitarre von “The Edge” und der ausdrucksstarke Gesang von Bono waren ebenso wie die Musik der neuen King Crimson in der Lage, mich hinwegzureißen in einen Strom, dessen Dynamik ich ausgeliefert war. Diese Dynamik war nicht die Musik selber, sondern das, was sie in mir hervorrief und was die Welt nicht kennen konnte, diese Musik aber anscheinend schon.

Alle diese Fixpunkte waren bis Anfang 1983 ertragreich. Der erste Fixpunkt stammte aus der Zeit 1980/81, der zweite aus der Zeit 1981/1982 und der dritte aus dem Jahre 1982. Sie überlagerten sich. Die Lage verändert sich entscheidend, wenn man nicht nur zuhören will, sondern teilnehmen muss. Die sozialen Relevanzen enthielten auf einmal einen ganz anderen Kern und wurden nicht nur an ihrer Oberfläche hinterfragt. Das Erz der Ader “Peter Gabriel” hatte sich endgültig erschöpft. Ich erkannte, dass seine Expressivität nie über die eigene künstlerische Befangenheit hinaus gelangen konnte. Denn er war abhängig von einem “Stoff”, über den etwas zu sagen wäre. Diesbezüglich ging er durchaus an seine Grenzen. Doch er ging nicht darüber hinaus. Er konnte nicht die Grenze des Künstlertums hinter sich lassen und produzierte danach eher einfältigen Kram (“Sledge Hammer”).

Die Ader des “reflexiven” Fixpunktes hatte sich also erschöpft. King Crimson als der “exaltierte” Fixpunkt bot mir auch nicht mehr genug. Die Dynamik schien zu statisch zu sein. Es gab genug Bogenschützen, die den Feind vielleicht auf Distanz halten konnten, aber niemand, der wirklich vorne kämpfen wollte. Letztendlich wurde das immer mehr zur chic verpackten, bürgerlich noch zu gestattenden Attitüde der Bewohner des Künstlerreservats.

Ich lehnte die Sachen von Peter Gabriel und King Crimson aus den frühen Achtzigern aber nicht wegen ihrer mangelnden künstlerischen Qualität ab. Es war mir einfach nicht genug. Es ist noch die Musik des Schneckenhauses, dessen Hall perfekt ausgenutzt wird.

Mein dritter Fixpunkt(der “hedonistische”) hatte sich auch erschöpft. Diente die Musik von U2 nur der vollkommen unreflektierten Selbstinthronisierung (des eigenen Narzissmus)? Als ich die Stadionauftritte von U2 im Fernsehen sah, war das für mich einfach Faschismus! Sie hatten auch nicht die Bescheidenheit eines Peter Gabriel oder eines Robert Fripp, sondern das war einfach: Post-Wave-Großkotz-Rock. Von dieser Jugend, die ihnen in den Stadien auf den Leim ging, wollte ich kein Teil sein!

Vereinheitlichung der Massen. Wenn Musik darauf hinausläuft, hat sie etwas Faschistisches. Musik sollte für jeden Zuhörer eine eigene Bedeutung habe. Ich hielt nur die Musik für ehrlich, die diese Prämisse ernstnahm und nicht die Zuhörer zu einer Herde verschmelzen wollte. Der direkte Kontakt, den U2 zum Publikum herstellen wollte, hatte von der Attitüde her einen fast messianischen Anstrich. Aber wohl eher zum eigenem Heil! Ich konnte nur die Verbreitung einer hedonistischen Ego-Botschaft erkennen. Die politischen Aktionen von Bono sind für mich auch nur ein Teil seiner Selbstverliebtheit. Wahre Helden scheuen eher das Rampenlicht und Popmusiker können keine gewählten Volksvertreter ersetzen.

Aber wo sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere. Stimmt tatsächlich. Dachte ich. Ich wollte wissen, ob mir über Musik Geschriebenes etwas mehr über die Hintergründe sagen könnte, ob die Teilnahme an diesem “Phänomen” mir etwas bringen könnte. Beim SPEX hatte ich erstmals das Gefühl. Sie schienen nicht nur ausgetretene Pfade zu beschreiten. Ich bestellte bei einem Mailorder(hieß glaube ich “Rip Off”) im Frühling 1983 auch meine ersten Punk-Singles. Die ersten drei Singles der Toten Hosen, die in den alternativen Charts ganz oben standen. Ich fand auch den Namen der Band ganz lustig. Der Bommerlunder als Beigabe der Bommerlunder-Single war somit auch der erste von mir selbst erworbene Alkohol. Ich trank ihn so langsam wie ich konnte. Die drei Singles fand ich gut. Aber dann wieder das Gleiche. Man interessiert sich für eine Sache und es dauert nicht lange und sie wurde zu einem Massenphänomen. Und die Toten Hosen fühlten sich damit wohl. Sie verbreiteten dann auch nur Dummheiten. Die OpelGang-Platte hatte vielleicht noch zwei Lieder, an denen OttoNormalVerbraucher Anstoß nehmen konnte. Als Star darf man halt mehr tun als der normale “Bürger”. Das ist dann aber auch normal. Mein Interesse erlosch völlig.

Musik und Attitüde müssen zusammen ein Ganzes ergeben. Man kann nicht vorgeben, für Veränderung zu stehen, wenn man dem Pluralismus des Massengeschmackes nur eine weitere Variante hinzufügt.

Die letzte Band, die ich noch gutheißen konnte, waren im Herbst 1983 die Bad Brains. Aber eigentlich war das auch nur eine symbolische Haltung. Auch ihre Musik hörte ich nicht mehr. Ich hatte mit der populären Musik in Gänze gebrochen. Nicht genug Tiefe. Zu oft wurde der Entäußerung der Würde nur ein neues Beispiel hinzugefügt. Auch die Bad Brains befanden sich an der Grenze dieses Phänomens: sie gehörten zur Hälfte also auch noch dazu. Mich interessierte nur noch, was sich jenseits dieser Grenze befand. Was auf jede Selbstdarstellung verzichtete. Ich war also erst 15 und schon hatte mir die Jugendkultur im herkömmlichen Sinne nichts mehr zu sagen. Das ging alles sehr schnell, quasi innerhalb eines halben Jahres.

Alles, was danach kam, konnte höchstens prägende Wirkung durch die Rezeptionsbedingungen haben, aber keinen unrevidierbaren Einfluss auf meine Sicht der Kunst als eines Teiles meiner Persönlichkeit.

Ich hörte trotzdem noch Musik, aber keine Musik von Selbstdarstellern mehr. Ästhetische Anforderungen mussten natürlich weiterhin erfüllt werden. Ich hörte z.B. geistliche Werke in der Radio-Reihe “Glocken und Chor” oder nicht selten Johann Sebastian Bach. Vieles kam nebenbei daher: z.B. eine Guitarrenbegleitung eines Puppenstücks, die mir gefiel. Musik, die sich in einen Kontext einfügt, bei der die Funktion klar definiert ist. Sie muss sich deshalb nicht unbedingt in klar definierten Formen bewegen. Aber ich konnte hören, ob die Musik eine Funktion erfüllte oder eher zum Zuklatschen der Gehörgänge gedacht war. Es ging definitiv nicht um Zerstreuung oder Ablenkung, sondern um Verdichtung und Konzentration. Auch einige meditative Avantgarde-Stücke fand ich interessant. Auch neue Orchesterwerke oder Kammerstücke, die musikalisch Neuland betreten wollten. Dort schien mir ein größerer Reichtum an Formen und eine größere formale Strenge auffindbar zu sein. Zwei Platten aus dem populären Bereich waren aber so seltsam, dass ich sie nicht letztgültig als Werke von Selbstdarstellern einordnen konnte. Es blieb noch eine Restfaszination übrig bei dem “Karibischen Western” von “Die Haut” und bei “Not Available” von den Residents. Musik als Spielzeug. Für solche Musik interessierte ich mich aber wenn überhaupt nur ganz peripher. Ich legte sie manchmal auf, um zu hören, ob ich noch an jugendlicher Kultur hänge. In den Mailorder-Katalog von Recommended Records schaute ich auch nur herein, um meine Urteile über die semantischen Grenzen der Pop-Kultur bestätigt zu sehen.

Ich hatte mir auch Inspiration aus anderen Bereichen besorgt, die mir wichtiger war und mit der die populäre Musik (inkl. der alternativen Arten) nicht mehr mithalten konnte. 1983 entwickelte ich ein Interesse, selbst zu schreiben. Ich interessierte mich für Theaterstücke und identifizierte mich mit der Theaterphilosophie von Antonin Artaud und der Herangehensweíse von Alfred Jarry. Ich schrieb aber selber keine Theaterstücke, sondern kurze Texte, die mir heute wie Ansammlungen von Zauberformeln vorkommen. Ich wollte Urbilder und das, was die Welt im Innersten zusammenhält, in Sätzen direkt fassbar machen. Im Fortgang der Texte näherte ich mich fast zwanghaft “dem Ursprung von allem”. Im Januar 1984 stieß ich an eine Grenze. Ich hatte keine Worte mehr für das, was ich ausdrücken wollte. Die Philosophie von Artaud und die Herangehensweise von Jarry schienen direkt für den Alltag bestimmt. Ich spielte sowieso Theater, ob ich wollte oder nicht. Soziologen sprechen ja auch ganz dreist von Rollen, die man übernimmt. Sie können mit diesen Begriffen aber kaum dem inneren Geschehen derer gerecht werden, die einen großen Teil ihres Selbsts aufgeben müssten, wenn sie nur noch Schüler, Auszubildender oder Lehrer sein sollen. Man kann die Menschheit mit Schönheit überraschen, ihnen zeigen, dass es auch anders geht.

Außerdem gab es im Fernsehen Filme zu sehen, deren Einfluß noch größer auf mich war. Der Film “Stalker” von Andrej Tarkowskij prägte mich für anderthalb Jahre. Ungefähr bis zum Frühjahr 1985. Alleine dieser Film erfüllte so die Funktion, die Peter Gabriel, King Crimson und U2 bis zum Anfang des Jahes 1983 zusammen für mich erfüllten.

Alles das kann man – glaube ich – noch unter den Begriff der “Persönlichkeitsbildung” fassen. Spätestens Anfang 1986 war ich nicht mehr auf der Suche nach Musik, Texten und Filmen, an denen ich mich orientieren konnte, sondern ich konnte zu allem entweder “ja” oder “nein” sagen. Kultur musste mir Genuss oder Wissen über mich selbst verschaffen. Gleichzeitig befand man sich, ob man nun wollte oder nicht, in einer bestimmten Position gegenüber der Gesellschaft. Ideen können in Form von Gefühlen Sprengsätze darstellen und ich glaubte nun mal (das tat ich schon immer), dass die Menschen die Möglichkeit besitzen, vollkommen frei zu leben. Das widerspricht der Tatsache nicht, dass es in der Politik, der Wirtschaft und der Kultur Regeln gibt, die manche zu Gewinnern und andere zu Verlierern machen, sondern diese Regeln machen jene Freiheit erst spannend. Es darf aber nicht von Anfang an feststehen, wer die Gewinner und wer die Verlierer sind. Freie Wahl und gleiche institutionelle Bedingungen sind entscheidend. Dann könnte im Extremfall sogar die Niederlage Spaß machen. Der Ausgang einer Auseinandersetzung muss gerecht erreicht worden sein. Zumindest kann man dann den Ausgang akzeptieren.

1986 war dann ein sehr wildes Jahr mit viel Alkohol und vielfältigen Hemmungslosigkeiten. Ich sagte zu manchen Sachen nein und zu sehr vielen Sachen ja. Punk war die bevorzugte Musik in meinem Bekanntenkreis. Ich ging auf Punk-Konzerte, die mir teilweise gut gefielen. Da ging es aber nie nur um Musik. Ich würde nicht sagen, dass ich Grenzerfahrungen suchte, sondern: ich war eine Grenzerfahrung. Ich hatte auch ein sehr unkonventionelles Punk-Verständnis. Uniformitäten konnte ich nicht ernstnehmen.

In diesem Jahr liebte ich aber auch die Musik von Prefab Sprout. Ich war also nicht ganz eindimensional auf kompromisslose Härte fixiert, die ich guthieß, um das gewalttätige Manipulationspotential von Musik genießen zu können. Musik verändert die Aggregatzustände des Verstandes von fest über flüssig bis zu gasförmig. Die Blöcke, die vorher nebeneinander in der Erde verankert waren, schweben durch die Musik in der Luft. Musik kann alles in einen Schwebezustand versetzen. Das kann als eine Form von Gewalt empfunden werden. Um diese Gewalt extra zu genießen, hört man meines Erachtens Hardcore-Punk etc. . Mit den erotischen Phantasien in der Nacht ist es ähnlich. Etwas hat Gewalt über den jungen (oder auch älteren) Mann, wenn er in der Nacht die Augen schließt. Immer wenn ich in diesem Alter die Augen schloss, stiegen erotische Phantasien mit Frauen, die ich noch nie gesehen hatte, in einer Heftigkeit in meinem Kopf, dass ich fast Angst davor hatte, meine Augen zu schließen (als Tagesphänomen: die Seele eines Mannes als Spielball für Gottes Seligkeitsterror). Die Musik konnte gar nicht hart genug sein, um mein Lebensgefühl auszudrücken. Wenn sie auch noch dynamisch war, besaß sie eine Qualität, die ich im All-Tag nicht missen wollte.

Im Jahre 1987 entdeckte ich dann, dass härtere Musik noch andere Bewegungsarten zulässt als nur das gegenseitige Pogo-Herumzerren. Ich spürte, wie die Energie aus der Erde durch meine Füße, meine Beine in meinen Körper floss und aus meinem Kopf in den Himmel stieg. Dieses Gefühl ließ sich durch Bewegungen rhythmisieren. Man kann sich so in einen ekstatischen Rausch tanzen. Und im Laufe der Jahre versöhnte mich diese Möglichkeit mit der Musik von Bands, die ich davor aus ideologischen Gründen abgelehnt hatte. Beim Tanzen zählt nur die Materialität der Töne: gegenüber dieser zeigte meine Bewegungsfreude einen erstaunlichen Opportunismus. Ich konnte mit Metallica nichts anfangen. Aber als ich “Seek and destroy” in der Disco hörte, konnte ich es auskosten. Ähnlich ging es mir später z.B. mit einigen U2-Stücken. Obwohl ich dadurch U2 nicht schon mag, komme ich gut in den Groove dieser Stücke hinein und auch wieder heraus. So machte ich im Laufe der Jahre erstaunliche “Erfahrungen”.

Prefab Sprout hatte ich durch weibliche Empfehlung kennengelernt. Alleine hätte ich ihrer Musik wahrscheinlich keine Chance gegeben. 1987 habe ich dann wieder angefangen, SPEX zu lesen, um auf neue Entwicklungen aufmerksam gemacht zu werden. Bei mir hatten sich die SPEX-Ausgaben der Jahre 1983 bis 1985 gestapelt, obwohl ich mein Abonnement aus dem Jahre 1983 nicht verlängert hatte. Bezahlt habe ich dafür nicht. Seit dem Herbst 1983 auch nicht mehr darin geblättert. Einfach vergessen. Die SPEX-”Inhalte” standen für eine Art von Verführung, auf die ich einfach nicht mehr angesprochen hatte. 1986 hörte ich zu 90% Punk und Hardcore. Ich war an dem Erlebnis von Energie und Intensität interessiert – ohne den Schnickschnack der Avantgarde. Es ging vielleicht auch nicht vordergründig um Musik, sondern um das authentische Erleben der “Gewalt der neuen Zeit”. Wenn die neue Zeit gewalttätig ist, dann sollte man sich keinen Illusionen hingeben, sondern den Genuss mit entsprechender Abhärtung verbinden. Nach Abhärtung stand mir der Sinn. Mein Inneres konnte durch harte Musik ergänzt werden. Vor der Schlacht der Tagesabschnitte dem Tag noch den musikalischen Panzer anlegen: das Äußere außen lassen, das Licht abwehren. Die Nacht(eigene Elektrizität) in den Tag holen und den Tag(fremde Elektrizität) in die Nacht holen.

Ich ließ aber meine Interessen an musikalischer Diversität dadurch nicht verschütt gehen, sondern konnte diese gerade durch Hardcore und auch seine verschiedenen Spielarten ausleben. Die Verdichtung als Argument. 1987 verlangte ich nach mehr. Ich konnte auch nicht ewig so viel Alkohol trinken wie 1986 ohne bescheuert zu werden. Meine Liebe zu den abgefahreneren Bands lebte wieder auf. Sie taten das, was sie taten, ja auch meist nicht ohne den Hintergrund einer “Jugend-Weisheit” – dass alles, was man tut, eine Wahrheit durch die eigene Vergänglichkeit erlangt. Ihrer bewusst werden kann man sich noch morgen. Und ihre Musik war gerade ein Mittel, dieses Bewusstwerden aufzuschieben. Man reagiert schneller durch die “Zivilisierung des Unterbewusstseins”, nicht durch seine Zähmung, sondern durch seine “Bevölkerung” mit Elementen, die keine Gemeinsamkeiten mit den darin bereits befindlichen aufweisen. Bevor man die Gegensätze in sich zur Entfaltung kommen lassen kann, musste jedes Element sein Gegenelement besitzen. Dann kann der “Krieg der Elemente” losgehen, das Bewusstsein über seinen eigenen Tod nachdenken.

Bands wie die Butthole Surfers und die Meat Puppets wollte ich in dieser Phase näher kennenlernen und entdeckte auch ihre verschiedenen Phasen. Mit meinem Musikgeschmack grenzte ich mich schon 1982/1983 von allen Mitschülern ab. Als diese dann Bands mit den gleichen Namen hörten, hatte ich auch nur Verachtung für diese “Inflation des schlechten Geschmacks” übrig. Nun grenzte ich mich wieder mit meinem Musikgeschmack ab – von der mir borniert vorkommenden Fixierung auf das Punk/Hardcore-Einmaleins von Schnelligkeit gepaart mit einem hermetisch abgedichteten Weltbild. Meine Devise lautete dagegen: erst einmal das Andere kennenlernen, bevor man darüber etwas sagen können will.

Wenn ich “meine Achtziger” rückblickend betrachte, dann entdecke ich eine Dialektik von Kontinentalem und atlantischem Ozeanischen. Das Kontinentale ist für mich die Versammlung aller Grenzen. Wie will man auf dem Wasser Grenzen errichten? Die feste Erde des Kontinents bietet dagegen dem Menschen die Möglichkeit, seine Heimstatt auf ihr zu erbauen. Menschen grenzen ihre Heimstätten und Länder gegeneinander ab, gerade weil man über Land so selbstverständlich zu jenen der Nachbarn gelangen kann. Auf dem Wasser ist zunächst einmal alles schwankend. Aber Menschen gehen auf Entdeckungsreisen, besiedeln im Falle der Angeln und Sachsen etc. z.B England oder wandern nach Amerika aus. Dann liegen zwischen ihnen und ihrer ursprünglichen Heimat ein ganzer Ozean und die Luftmassen über ihm. Das Wasser und die Luft sind Medien. Sie sind auch die Lebensräume der Fische und der Vögel. Es gibt in beiden Strömungen, z.B. im Atlantik den Golfstrom, durch den es in Europa wärmere Luft-Temperaturen gibt. Und im Wasser und noch besser natürlich in der Luft überträgt sich der Schall. Die Kommunikation mit Amerika musste den Atlantik überqueren. Es war keine selbstverständliche Kommunikation, sondern eine mit der Gefahr der Selbstaufgabe. Man könnte sich verlieren. Das machte die Beschäftigung mit amerikanischen Bands auf sonderbare Weise interessant.

“Stalker” und viele andere Filme von v.a. slawischen Regisseuren befriedigen die Sehnsucht nach dem Kontinentalen, nach festem Grund. Erst als ich diese Sicherheit besaß, machte ich mich auf zur Wanderung durch die ganze Bandbreite des auch Anders-Möglichen. Ich wusste dann nämlich, dass alles, was ich entdecken würde, nur das Gleiche im Anderen sein sollte. Vieles an der modernen amerikanischen Kultur kam mir auffallend exotisch vor und war mit Sicherheit nicht 1 zu 1 in die Zusammenhänge der eigenen Lebenswirklichkeit übertragbar.

Die Butthole Surfers und die Meat Puppets waren aber Bands, die dieses Exotische bewusst lebten. Sie gehörten nicht zu diesen Lemmingen, zu denen Jugendliche in den USA regelmäßig zu mutieren scheinen, wenn sie ihr Gefühl der Zusammengehörigkeit ausdrücken wollen. Meiner Wahrnehmung nach standen sie außerhalb dieser Erscheinungen und konnten etwas mit ihrer Musik ausformulieren, mir zur Gehör bringen, was ich anderswo nur tendenziell und inkonsequent fand.

Ich konnte auch bei diesen Bands ansetzen, weil sie Lebensgefühle aussprachen, die mich 1983 vereinzelt hatten, die Meat Puppets ein heiteres Lebensgefühl und die Butthole Surfers ein bewölktes. Durch beide hob ich mich auf Weisen, die nicht vorgesehen sein konnten, von meiner sozialen Umgebung ab. Es schien also auch eine gewisse Arbeitsteilung in den Herangehensweisen der vielen noch zu entdeckenden Bands zu geben. Man konnte sich zusammensetzen und das Puzzle, das man war, besaß eine Ausdehnung, die nicht zu überschauen war.

Die Platten, die ich mir anschaffen konnte, erzeugten nicht selten ein Hochgefühl bei mir. Die Globalität konnte ich dadurch auf positive Weise erleben. Mit Amerika gab es auch wegen der europäischen Ursprünge noch genügend Gemeinsamkeiten. Der Planet drehte sich und man schien ein ähnliches Feld zu (durch-)kreuzen: der Bruderschaft des Sonnenlichts wurde durch den Mondschein immer wieder ein neues Siegel hinzugefügt. Es herrschte eine “Arbeitsteilung des guten Gefühls”.

Das konnte man dann teilweise im SPEX auf komisch intellektuelle oder spontan angeberische Weise nachlesen. Ich kaufte mir die aktuellen Ausgaben und die neuen Hypes lieferten immer Ansatzpunkte für neue Er-Örterungen, Kleinstdiskussionen und “Diskurse”. Mir fiel es schwerer, die leichten Berichte im SPIEGEL zu lesen als die komplizierteren Texte im SPEX. Einfach, weil man sogleich wusste, worum es geht, weil man die Musik der Bands kannte und weil die Autoren teilweise aus ihren subjektiven Standpunkten keinen Hehl machten. Bei vielen “objektiven” Berichten weiß man oft nicht, warum? und wieso? das nun gerade so sein soll oder kann. Die Geschichte vor den Geschichten fehlte. Je mehr der Autor hinter der Geschichte verschwand, desto unglaubwürdiger wurde sie dadurch für mich. Beim SPEX dagegen wurde auch Stil auf manchmal selbstreferentielle Weise Gegenstand der Auseinandersetzung. Dann ging es auch um das “warum des wieso?”. Bei manchen eher intellektuellen Autoren interessierten mich am meisten die kurzen quasi-soziologischen Exkurse, bei den eher kunstschaffenden Autoren die verschiedenen Stile der Texte. Ich liebte es, wenn ich in meiner Pforte die teilweise abstrusen Gedankengänge nachverfolgen durfte. Sie konnten so abstrus sein wie sie wollten. An der Wahrheit konnten sie eh nicht rütteln. Es macht immer Spaß bei Don Quichotte-Kämpfen zuzusehen. Es ist ein besonderes Vergnügen. Gleichzeitig schrieb ich in meiner Pforte meine eigenen Texte und auch bei ihnen machte es mir oft Spaß, einen ganz abstrusen Ausgangspunkt zu wählen, um dann zu schauen, wo ich ankommen würde.

Angeregt bei meiner eigenen Textproduktion wurde ich u.a. durch Diskurse zu allgemein-politischen Sachlagen und die teilweise hohe poetische Qualität mancher Songtexte. Mich interessierten die Menschen in konkreten Ausnahmesituationen. Ich wollte in meinen Texten die Entfesselungskünstler in Zeitlupe beobachten. Mein Stilmittel dafür war nicht selten die Geschwindigkeit. Ich saß z.B. einige Male vor dem Fernseher und schrieb die Bildfetzen nieder, die sich in meinem Hirn zu Vorstellungswelten agglomeriert hatten. Meinen eigenen Weg, insofern man überhaupt davon sprechen kann, fand ich dadurch, dass das Schreiben selber zu einer Ausnahmesituation wurde und ich es auch als solche erleben konnte.

Die Meat Puppets und die Butthole Surfers waren keine Bands, deren Existenz mich sonderlich überrascht hatte, sondern sie gehörten zu jenen Bands, deren Ansatzpunkte ich schon für möglich gehalten hatte. Ich wusste, dass es solche Bands gegeben hat. Viele lehnten sie gerade ab, weil schon ihre Bandnamen auch der eigenen wahnhaften Phantasie entsprungen sein könnten. Ein Gedanke, der für mich aber gerade nicht anrüchig sein konnte. Jedenfalls schienen sie gegen die deutsche “Keine Experimente”- Punk-Doktrin zu verstoßen. Ihre Geradlinigkeit nahm aber einen Verlauf. Durch diesen Verlauf – mag er noch so kurvenreich sein – wird die Geradlinigkeit nicht geringer, sondern passt sich eher der Umgebung an. Man konnte sich so die Landschaften (Berge und Täler) ansehen und war nicht gezwungen, dauernd nur durch die eigenen Maulwurfstunnel zu fahren.

Meine Texte unterschieden sich von denen im Jahre 1983 nicht unbedingt durch den Wortschatz, sondern durch seine Verwendungsart. Ich wusste nun, dass ich nur über Umwege zum Ziel kommen konnte. Darum geht es ja im Film “Stalker”. Ich musste dafür aber nicht mehr vorsichtig sein wie der “Stalker”, der ja im Grunde ein wagemutiger Mensch ist. Denn wer traut sich sonst noch in die “Zone”? Ich musste nicht mehr austesten, ob ich über einen bestimmten Weg zum Ziel gelange und auch Erfahrungen waren keine Gewähr mehr dafür, dass man zum richtigen Ziel gelangt. Das “richtige Ziel” gab es gar nicht mehr. Es reicht schon aus, wenn man an ein bestimmtes Ziel gelangt. Dieses unterscheidet sich dann von dem Ziel davor und wird sich von dem Ziel danach auch unterscheiden müssen.

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Ich schrieb meine Texte auch für kein Publikum, sondern das Publikum war ich selber. Die Entwicklung meiner Textproduktion war eine “Suche nach der anderen Intelligenz”. Meine Texte wurden immer mehr zu “Suchen nach der anderen Intelligenz”. Im Verzeichnis meines letzten Textbuches unterschied ich sie durch Attribute, durch die sich bestimmte Frauentypen voneinander unterscheiden lassen. Meine Texte wurden nur in meinem Kopf veröffentlicht. Sie gehörten also so gesehen zu der “Stilrichtung” des Solipsismus.

Als ich im Jahre 1987 wieder zu schreiben anfing, waren eine wesentliche Anregung die Texte von EA80. Zu EA80 hatte ich am Anfang (und auf andere Weise auch später) ein zwiespältiges Verhältnis. Ich liebte teilweise die Härte und Direktheit, aber in vielen Liedern nicht den pathetischen, selbstverliebten Gesang. Durch die Texte wurde dieser aber erklärbar. Sie können etwas prägnant knapp ausdrücken, was sich andere nicht zu sagen trauen. Sie waren zwar noch in einer Punk-Tradition verwurzelt, von der ich mich lösen wollte, aber die Texte waren teilweise extrem einfallsreich und scheuten sich nicht, ganz fern liegende Verbindungen herzustellen. Dabei war ihre Musik eher schlicht gehalten, als ob auf ihren Platten kein Ton vorhanden sein dürfte, der nicht auch 100% zum Ausdruck ihres Gefühls gebraucht würde. Sie machten dann aber auch eine Entwicklung durch. Ich durfte mich dann auch mit dem Sänger von EA80 am Telefon unterhalten und er erwies sich als außerordentlich nette Persönlichkeit. In meiner Erinnerung ist er aber die Stimme aus meinem Cassettenrekorder. Unterhaltungen vergisst man so leicht, weil man in ihnen selbst präsent ist. Wenn man Musik – auch mehrmals – hören kann, ist das Urteilsvermögen entspannter. EA80 “live” haben mich nie interessiert. Das hat meinem Eindruck von EA80 nichts Wesentliches hinzugefügt. Die Idee selber schien in diesem Fall vielleicht wichtiger zu sein als ihre Durchführung. Die ersten drei LP’s von EA80 besaßen eine besondere Bedeutung für mich. Nach der “Licht”-LP ist mein Interesse für EA80 eingeschlafen.

Wenn eine Band aber meinen durchschnittlichen Musikgeschmack des Jahres 1987 versinnbildlichen sollte, dann sind das wohl “Camper van Beethoven”. Dass es so eine Band gab, erfuhr ich erst in diesem Jahr. Ich kann dazu auch nicht mehr sagen. Es ging wohl einfach darum, dem eigenen Gefühl zu vertrauen. Ich wollte diese Musik gar nicht näher verstehen. Ich wollte sie nur anhören. Über die Inhalte wusste ich schon Bescheid. Mich interessierte aber die Verpackung dieser Inhalte. Das war es dann. Punkt.

Im Jahre 1988 machte ich dann eine politische Reifung durch. Ich konnte auf einmal hinter die politischen Gedankengebäude schauen. Geholfen dabei hat mir vor allem die Lektüre von Max Stirner und auch ein wenig diejenige von Konrad Lorenz. Es waren wichtige Bestätigungen in meinem Prozess der Selbsterkenntnis. In meinem Bekanntenkreis fanden sich dafür keine Ansatzpunkte. Ich machte auch nie einen Hehl daraus, dass ich nur einer Zweckgemeinschaft angehören wollte und dass ich die Sehnsucht Freunde haben zu wollen eher peinlich fand. Den Wert der Freundschaft erkennt man auch erst durch den Freund und nicht schon durch “Gemeinschaft”. Zwar positionierte ich mich immer noch eindeutig links. Das kann ich mit aller Aufrichtigkeit sagen. Ich war links. Ich besitze auch keine andere Referenz für das “Linkssein”, auf die ich wirklich bauen möchte, als meine eigene Einstellung in den späten 1980ern. Aber ich wusste auch, dass es noch eine größere Kraft gibt. Diese Kraft ist man selbst. Dann kommt es auf Worte zur Bezeichnung von “Seiten” nicht mehr an. Man wählt sie frei oder gar nicht. Man kann zuerst nur auf seiner eigenen Seite stehen und sollte nicht versuchen, andere von ihrer Seite auf die eigene herüberzuziehen, sondern sie eher dabei bestärken – wenn man schon das Wort an sie richtet – ihre eigenen Interessen wahrzunehmen, denn geschenkt bekommen wollte ich nichts. Der Sieger sollte auf seinen Sieg stolz sein können, egal, wer es sein würde.

Im Jahre 1988 nahm mein ideologisches Denken konkretere Formen an und ich begann, andere ideologische Positionen auf ihren Kerninhalt zu reduzieren und die möglichen Positionen von den unmöglichen zu separieren. Dadurch wurde die philosophische Komponente von Musik für mich wichtiger. Diese gibt es ja auch im Rock’n’Roll etc. . Ich brauchte aber keinen Überbau zur Musik, sondern die Musik als Katalysator der gesellschaftlichen Befreiung war schon Überbau. Man kann aber ihre innere Konstruktionsweise, das, wodurch sie Menschen zusammenführt, freilegen. Nicht Harmoniefolgen, sondern ihr sozusagen dionysisches oder apollinisches Potential. Beim dionysischen Potential streiten Himmel und Hölle um die Seele des Menschen, beim apollinischen arbeiten sie Hand in Hand.

1986 verkörperten Septic Death das Dionysische und Prefab Sprout das Apollinische. 1988 vermochte sich das Dionysische immer mehr durch das Apollinische auszudrücken. Das Apollinische missbrauchte das Dionysische immer mehr für seine Zwecke. Das Werkzeug gebraucht die Hand des Meisters für seine Zwecke. Eine obszöne Entmenschlichung, der nur das Bewusstsein entgehen kann. 1988 konnte der Frage nach der eigenen Menschlichkeit nicht mehr aus dem Wege gegangen werden. Entweder ist man ein Mensch oder man könnte auch zugleich Gott und Tier sein. Wäre das nicht der endgültige Schritt weg von der falschen hitlerischen Alternative “entweder Nazi oder Jude” mit ihrer apodiktischen Pointe hin zu der wirklichen menschlichen Alternative “entweder sowohl Gott(das Vorgeschlechtliche) als auch Tier(das Vorbewusste) sein oder entweder gar nichts(das Nachbewusste) oder alles(das Nachgeschlechtliche) sein”? Diese wirklich menschliche Alternative stellt den Menschen vor die Wahl zwischen der Nicht-Entscheidung und der Entscheidung. Die gelieferte Unterscheidung überzeugt. Es gibt aber auch noch die “unterscheidende Überzeugung”, aufgrund der man die politischen Gedankengebäude “dekonstruieren” kann: sowohl entweder Gott oder Tier sein als auch sowohl alles als auch nichts sein.

Dass irgendwann der Punkt kommen musste, an dem es keine Entscheidungsfreiheit mehr geben würde, das konnte ich nicht ahnen. Irgendwann gibt man sich selber den Judaskuss. Man wird alles verraten (müssen), an was man je geglaubt hat. Aber dieser Punkt war 1988 noch lange nicht erreicht. Die Steigerung des Selbstgefühls war noch lange nicht ausgereizt. Gefühle können nicht nur von alleine stärker werden. Das Gefühl selber kann auch besser werden. Bis es seine eigene Selbstersetzung spüren kann, die zum Moment wird.

Wenn ich eine Favoriten-Liste von Platten aufstellen müsste, die mich von ihrer ideologischen Herangehensweise am nachhaltigsten angehalten haben, mich um das zu kümmern, was um mich herum geschieht und dabei meine eigenen Interessen auch nicht zu vernachlässigen, dann würde sie wohl die folgenden Platten enthalten:

1. Splatterheads – “Ink of a Mad Men’s Pen” (1989)

2. EA 80 – “2 Takte später” (1985)

3. Overkill – “Triumph of the Will” (1985)

4. Nirvana – “Sliver”/”Dive”-7″ (1990)

5. Splatterheads – “Bot” (1992)

6. Meat Puppets – “Meat Puppets II” (1983)

7. Mekong Delta – “The Music of Erich Zann” (1988)

8. CRASS – “Nagasaki Nightmare”/ “Big A Little A”-7″ (1980)

9. Jones Very – “Words and Days” (1989)

10. Atavistic – “Vanishing Point” (1990)

Um auf diese Liste zu kommen, müssen die Bands nicht unbedingt die Musik mit der höchsten künstlerischen Qualität abliefern. Sie müssen noch nicht einmal die integersten Bands sein. Sie sagt auch nicht unbedingt etwas über das Hörvergnügen aus, sondern es ist eine Rangliste von Schallplatten, deren Botschaft einen Appell enthält, eine Aufforderung sich zu bessern, die ich ernstnahm. Es gibt Platten, die mir ähnlich viel (oder sogar mehr) bedeuten, die aber sozusagen, was ihren Appell-Charakter angeht, “selbstgenügsam” sind.

In den Achtzigern lassen sich bezüglich meiner popaffinen Mediensozialisation Phasen ausmachen, als ob es auch einen (Bio-) Rhythmus in der Zeit (synchron zu meiner Zeit) gegeben hätte. Komischerweise sind diese Phasen fast exakt drei Jahre lang: Sommer 1980 – Sommer 1983 – Sommer 1986 – Sommer 1989. Spätestens in den Sommern hatte eine neue Logik die alte überlagert. Vor dem Beginn jeder Phase habe ich mich auch mit Bands identifiziert, deren Rezeption in meiner Biographie keine großen Spuren hinterlassen hat. Vor 1980 fand ich in der Orientierungsstufe AC/DC zum Beispiel OK und fühlte mich das erste Mal nicht schwächer als die älteren Buben. Vor 1983 hatte ich auch schon die alternativen Charts studiert und mir ein Virgin Prunes-Album zugelegt: “If I die, I die”. Ebenfalls fand ich die Platte “Plastic Surgery Disasters” von den Dead Kennedys gut, zumindest das Cover hatte es mir von seiner Bildsprache her angetan. Die Musik war mir jedoch etwas zu grobschlächtig expressiv. Aber nur am Anfang und am Ende der mittleren Phase meiner “popaffinen” Mediensozialisation hörte ich populäre Musik. Anfang 1986 hörte ich gerne die Broken Bones. Eine Band, die vor 1989 eine besondere Bedeutung für mich hatte, war z.B. Jesus Chrysler. Aus irgendeinem Grund mochte ich ihre Platte “This Year’s Savior”. Das waren jedoch jeweils nur kurze Intermezzi. AC/DC machten schon 1980 für mich nur “Jungensmusik”. Die Musik der Virgin Prunes war wohl zu “formlos” und die Gewitter der gebrochenen Knochen verzogen sich so schnell wieder wie sie sich angekündigt hatten. Die Platte von Jesus Chrysler besaß für mich schon 1989 eine eigenartige anachronistische Aura.

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Ich las zugegebenermaßen in den Achtzigern nur wenige Bücher. Im Gymnasium wurde man dazu gezwungen und so musste ich dann z.B. “Effi Briest” von Theodor Fontane lesen. Ich begann eine erotische Beziehung zur deutschen Sprache zu entwickeln. Lesen war für mich eine erotische Beschäftigung. Beim Lesen werden die erotischen Phantasien sich selber überlassen – in der Welt der Erinnerung. Dabei waren jede Zeile und jeder Satz purer Sadismus. Eine Quälerei, die sich sowieso lohnt, weil im Nachhinein irgendwann durchgestanden. So kann man sich praktisch alles vormachen (lassen). Ich war noch ein Mensch und kein Punk. Allein durch die intensive Beschäftigung mit diesem Buch 1984 war es eines meiner wichtigsten Roman-Leseerlebnisse. Der Roman, der mich in den Achtzigern aber am meisten beeindruckt hat, war “Reise ans Ende der Nacht” von Louis-Ferdinand Céline. Er steht bis heute ganz oben auf meiner Belletristik-Favoritenliste. Das Wissen, das in ihm enthalten ist, hat mich nachhaltig geprägt. Durch diesen Roman konnte man etwas lernen. In ihm fand ich verdichtetes Wissen. Und wenn ich später Soziologie studierte und soziologische Texte verfasste, so war (und ist) das mein Versuch, dieses Wissen ohne die Umgebung der Fiktion zu suchen und zu finden. Mich interessiert die Allgemeingültigkeit.

Zu etwa der gleichen Zeit las ich auch “Orpheus (und) Eurydike” (“Buch der Könige. Vol.I”) von Klaus Theweleit und die Freiheit der Auseinandersetzung mit dem Thema Kultur und die Gegenstandsnähe offenbarten mir so manche “Doppelbödigkeiten”. Ich wollte bei meinem eigenen Schreiben nicht mehr vorsichtig sein, sondern soviel wie möglich Reflexionsschichten zu Texten wachsen lassen. Aber Theweleit wollte sich ja auch nur diesem Wissen nähern, das ich bei Celine fand, aber in einer metaliterarischen Weise, die das Wissen nur außerhalb der Texte einkreisen kann. Sie selber bilden die Leerstelle in dieser Metaliteratur – sogar, wenn sie zitiert werden. Als ich das “Buch der Könige” zu Ende gelesen hatte, war ich zwar durch das Leseerlebnis bereichert worden und mir wurden Möglichkeiten des Umgangs mit Wissen gezeigt, aber die Inhalte dieses Buches waren wiederum so urepisodisch und nicht selten endpessimistisch, dass sie eher ein Beispiel für das wurden, was ich durch intellektuelle Beschäftigung zu überwinden suchte. Im “Buch der Könige”(“Vol.I”, hahaha) fand sich das “Gestern vom Morgen”, vielleicht sogar das “(hippiehafte?) Ewiggestrige vom Morgen”. Ich wollte die harten Fakten der “Soziologie”. In der Zukunft las ich dann viele soziologische Theorien, aber auch noch viel anderes Zeug. Ich bin dann immer besonders dankbar für gute Belletristik, weil durch sie der eigene Horizont auf eine nicht so trockene (und karge) Weise erweitert wird wie das bei soziologischen Texten durch die Anforderungen der logischen Gedankenentwicklung leider zu oft geschieht. Auch in meinen soziologischen Texten steht der Stil sicher nicht an erster Stelle, sondern wenn überhaupt komme ich über den Gedankeninhalt zum Stil. Die Logik ist das Material, mit dem man Theorien baut. Das Resultat wird keine Geschichte sein, sondern ein Einblick in das, was der Mensch noch in der Zukunft vermag.

1988 interessierte mich die kraftvolle Musik vieler Ami- und Aussie-Bands, das Miterleben der Arbeitsteilung des guten Gefühls. Es gab aber nicht nur diesen Zusammenfluss vieler Ströme zu einem ganz großen Strom im Bereich der härteren Guitarrenmusik, sondern die Lebensfreude kann sich in sehr unterschiedlichen musikalischen Formen ausdrücken. Ich machte da generell keinen Unterschied mehr. Ich mochte das aber nicht Weltmusik nennen. Für mich stand das alles gleichwertig nebeneinander und es gab keine Einheit, unter der man diese verschiedenen Ausdrucksarten fassen konnte. Das Wichtige war, dass Lebensfreude transportiert wurde, dass Musik auch das Potential hat, Ketten zu sprengen. Die Einheit war also höchstens die Musik selber, aber nicht die Welt. Es gab also nicht nur das Atlantische und das Kontinentale, sondern auch u.a. Afrikanisches, Arabisches, Asiatisches, Amerikanisches, das nicht durch diesen Gegensatz geprägt war. Es gab Polaritäten und es gab Felder. Und es war interessant, dass die Logik der Polaritäten und die Logik der Felder keinen inneren Zusammenhang der Ausdrucksformen aufwiesen. Das junge Subversive schuf sich relativ zielsicher eine Tradition und das alte Traditionale arbeitete an der Subversion.

Die Erze in den Adern erschöpften sich nicht mehr, sondern waren immer reichhaltiger zu finden. Es gab zahlreiche Punk- und Metal-Bands, die neue Musik mit aufrichtigen Inhalten machten, teilweise mit einer Geschwindigkeit, die das Auseinanderfliegen einer Maschine vorwegnahm.

Das atlantische Ozeanische ist das uns Europäern bekannte Ozeanische. Amerika liegt zwischen dem Pazifik und dem Atlantik. Es gibt eine eher intellektuelle bohemienmäßige Kultur an der Ostküste und eine eher geistfremde strand- oder strömungsfixierte Kultur an der Westküste, wenn man das so grob vereinfachen darf. Dazwischen wiederum eigene Kulturen, z.B. die des urbanen Chicago oder von Wüstengegenden. Jene Dialektik zwischen dem Kontinentalen und dem Ozeanischen findet also ihre Synthese jenseits der europäischen Fixierung auf den Atlantik, den man überqueren muss, wenn man nach Amerika will.

Einen der interessantesten Einblicke in die amerikanische Kultur (neben Walt Whitman und Henry David Thoreau) erhielt ich durch das literarische Schaffen von H.P. Lovecraft. Sowohl die britische Anarcho-Band Rudimentary Peni als auch das deutsche Metal-Urgestein von Mekong Delta waren ebenfalls von ihm inspiriert. Durch sie wurde ich auf seine Literatur aufmerksam. Er prägte mein Bild von der Binnendifferenzierung der USA am stärksten. Im Osten die Kultur, in deren Kellern Geheimnisse verborgen sind, die den Unbeteiligten schaudern lassen können und auch noch etwas über die europäische Herkunft aussagen. Mit Entsprechendem kann die Westküste nicht aufwarten: sie ist eher lichtzugewandt. Dort findet das Leben eher im ersten Stock des us-amerikanischen Einfamilienhauses statt. Man möchte am liebsten noch nicht einmal die Treppe heruntergehen, sondern gleich vom Balkon in die Halfpipe springen. In den Gegenden dazwischen geht man dagegen aus dem Parterre direkt in die weiten Landschaften hinaus. Man besitzt nicht mehr unbedingt den Kontakt zu seinen Ursprüngen, ist aber erdverwurzelter als z.B. die kalifornische Kultur. Derart prägte die Literatur von H.P. Lovecraft mein Bild von der us-amerikanischen Binnendifferenzierung. Es war dann wohl auch kein Zufall, dass zwei meiner wesentlichen Bezugspunkte, was kulturelle Eigenständigkeiten angeht, keine Bands von der nördlichen Ostküste oder der südlichen Westküste waren, sondern eine Band aus Texas(Butthole Surfers) und eine Band aus Arizona(Meat Puppets). Beide hatten noch einen stärkeren Bezug zum amerikanischen Kontinentalen.

Letztendlich musste der Umweg, den ich zu gehen hatte, einmal um den Erdball führen, dann würde ich in mich zurückkehren können und wäre ein neuer Mensch geworden. Dann konnte ich von Neuem losgehen, um zielgerichtet in mich selber zurückzukehren.

Die Basis, von der man ausgehen konnte, wurde immer breiter. Wie gesagt erschöpften sich die Erze nicht mehr, sondern das Unterirdische, von dem man seine Rohstoffe bezog, wurde immer ausgedehnter – mit immer stärkeren erzhaltigen Flözen. Hier schien ein immanentes Ende nicht in Sicht und aus dieser vermeintlichen Tatsache zog man seine notwendig “illusorische” Zuversicht.

Das Jahr 1989 war dann für mich ein Jahr der Reinigung. Alles wurde klarer, die eigene Beziehung zur Welt teilweise lockerer, auf jeden Fall entspannter. Von den Illusionen der politischen Orientierungen war ich befreit. Mein Linkssein war überhaupt nicht mehr vom rechten Gegensatz geprägt, sondern es befand sich mitten auf einem Ozean, dem “Meerischen”. Ich konnte jede Küste jedes Kontinentes frei ansteuern und musste auch keine Angst haben, dass dieser Kontinent ein rechter sein könnte. Ob jetzt nun von Strömungen getrieben oder aus eigener Kraft – wohin ich gelangen würde, würde ich “Gerechtigkeit” finden. Es wäre mein Land in einer Welt, die ich bewohnen könnte. Das sind Metaphern, die nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln sind. Das wusste ich sehr wohl. Dass dann die Grenzen tatsächlich fielen(zumindest die Grenze zwischen der DDR und der BRD), hielt ich nicht unbedingt für notwendig, da dadurch die Menschen auch daran gehindert werden könnten, sich etwas Eigenes aufzubauen. Denn konnten sie das marktfreiere Größere überhaupt genau genug kennen, von dem sie ein Teil werden würden?

Meine Einstellung zu kulturellen Bewegungen wie Rock’n’Roll, Beat, Hippie und Punk war eine zutiefst manichäische. Punk ist zu einem großen Teil lediglich das Bewusstsein vom instantan möglichen Ausverkauf, real existierend – man muss es so sagen – zum großen Teil einfach “Selbstverarschung”. Der Fortschritt von Hippie zu Punk war also von vornherein für mich nicht nur ein guter, sondern auch ein böser. Je mehr Gutes möglich wurde, desto mehr Böses war zugleich möglich geworden. So konnte es nie eine Veranlassung geben, sich auszuruhen. Nach 1989 wurde die Techno-Bewegung immer stärker. Der Fortschritt von Punk zu Techno konnte nur der Fortschritt zum ganz Bösen und zum ganz Guten sein. Doch ist dieser Fortschritt denn möglich, ist Techno die Musik, zu der Marx tanzen könnte, die Musik aller Marxisten? Oder könnte man während des Tanzens zur Technomusik über den Horizont hinausgelangen und aus seiner eigenen Welt in das Bodenlose eines immateriellen Universums fallen? Mit Techno setzte ich mich dementsprechend äußerst selektiv auseinander. Meine Beziehung zu Techno besaß immer diese quasi-symbolische, artifizielle “Note”. Es war immer eine Art “Selbstbezug” präsent. Die Musik versorgte mich mit Standpunkten außerhalb von mir, von denen aus ich mich selber beobachten konnte. Techno ist die Musik der Seelen im Spiegelsaal. Reflexion und Tanz konnten so verbunden werden. Mir war es so aber schwer möglich, mich in einen ekstatischen Rausch zu tanzen, denn die Musik schien zu genau über mich und meine Regungen Bescheid zu wissen. Den Zustand des totalen Bewusstseins will man ja durch die Ekstase gerade erst erlangen. Dafür muss ich aber am Unreinen ansetzen, das sich durch den Rausch zu reinigen hat. Meine Beziehung zu Techno pflegte ich durch ganz sporadische Begegnungen, die meistens besonders fruchtbar unter “solitären” Umständen stattfanden, in denen ich die Einsamkeit akzeptieren konnte. Es waren idealtypische Momente, die nicht reproduziert werden können, sondern die Erinnerung an sich auslöschten. Als solche Momente sind sie unvergesslich. Schwarze Löcher in der Umgebung anderen “Wissens”.

Eine der bedeutendsten Guitarrenbands der Neunziger Jahre war sicherlich “Nirvana”. Sie waren fast schon “berühmt”. Das Leben der Hauptperson dieser Band nahm ein unrühmliches Ende. Er setzte seinem Leben selber ein Ende. Wohl aus Verzweiflung. Er fand keine Einstellung zur “Berühmtheit”. Auch ich besaß eine besondere Beziehung zu ihrer Musik. Zum ersten Mal hörte ich von ihnen als ihre Debüt-LP “Bleach” herauskam. Ich ließ mir in einem Gebrauchtplatten-Laden, der die neuesten Independent-Veröffentlichungen im Sortiment hatte, die Platten vorspielen, deren Cover ich interessant fand oder um die ein interessanter Hype stattfand. Mir war die erste Platte von Nirvana mein Zivildienstgeld nicht wert. Es gab zu diesem Zeitpunkt bessere Bands: für mich z.B. die Splatterheads und Electric Peace. Sie hatten musikalisch und philosophisch mehr zu bieten. Auf den Geschmack bezüglich Nirvanas Musik kam ich aber dann durch die Single “Sliver”. Ich schnitt den Song im Radio mit und hörte ihn immer wieder. Er schien sich nicht abzunutzen. Er hatte etwas loopmäßig Perfektes an sich. Ich ahnte, dass hier etwas an seinem Endpunkt angelangt sein könnte. Der Hit “Smells Like Teen Spirit” sprach mich auch an. Er besaß aber nicht mehr die revolutionäre Einfachheit von “Sliver”. Auf der Welle von “Sliver” schien man mit extraterrestrischen Intelligenzen in Kontakt treten zu können. Der Selbstverständlichkeit dieses Songs konnte kaum noch etwas hinzugefügt werden. Diese Selbstverständlichkeit, die Gebundenheit an das Orale, das Muttermilch Aufsaugende war so groß, dass man die Platte noch nicht einmal besitzen musste. Es war Musik, die ihre Herrschaft über dem Äther aufspannte und daran zerbrechen konnte. Wieder einmal hat sich ein Ikarus die Flügel verbrannt.

Ich dagegen saß in den Neunzigern auf meinem geliehenen Sofa und übte mich in der Weltbeherrschung auf andere Weise. Ich hielt mich beim Lesen von soziologischen Theorien in dem Elfenbeinturm meines Mundraums auf und brachte meiner geduldig in dem Elfenbeingemäuer meiner Zähne ruhenden Zunge die Klänge der Laute der Worte der Begriffe bei, die für mein Hirn einen Sinn ergaben. Der Anfang der Neunziger Jahre war ein schmerzhafter Neubeginn für mich gewesen. Man musste nun dafür arbeiten, dass die Gefühle (und mit ihnen alles andere) besser wurden. Und es gab kein Zurück. Das hatte etwas Tröstliches. Die Alternative des Todes kann es im Leben nicht geben. Ich wusste, dass ich mehr zu bieten hatte als all die Hobby-Intellektuellen der Popkultur und die Theoretiker der Kritischen Theorie mit ihren Verstehens-Gesten. Ich wollte mich dem schwierigsten Fach widmen und daran wachsen. Die Soziologie schien mir das komplexeste Fach und die kybernetische Ausrichtung besaß das meiste interdsiziplinäre Potential. Ich wollte die Menschen nicht mehr entlassen in ihre selbstverschuldete Unmündigkeit, sondern die Kollektive, denen ich angehörte, durch die Objektivität meiner Resultate dazu zwíngen, einen Weg einzuschlagen, der die eigenen Lebensgrundlagen intakt lässt, sodass die Existenz aller zukünftigen Generationen durch das eigene Handeln nicht in Frage gestellt werden kann.

Meine letzte Mini-Prosa schrieb ich 1991. Nach dem 11. Text in meinem letzten Textbuch konnte kein neuer mehr hinzukommen, weil ich einfach keine Befriedigung mehr daraus ziehen konnte, lediglich etwas für mich selbst zu schaffen. Ich konnte nicht mehr nur mein eigenes Publikum sein. Der Stil des Solipsismus war ein Fall für die Archive geworden. Ich hatte diese Texte direkt in mich hineingeschrieben und niemand konnte sie herausreißen. Wer es versuchte, blieb in meinem Innern wie in einer fleischfressenden Pflanze kleben.

Ich fand jetzt nur noch Befriedigung, wenn das, was ich schuf, auch für andere einen Wert besitzen konnte. Dadurch platzierte ich mich sozusagen selber erst in der Welt. So bewies ich mir meine Existenz vor mir selbst. Das Problem ist nur: was passiert, wenn die Arbeit erbracht ist und vielleicht gar nicht anerkannt wird, obwohl man nach seinen eigenen strengen Regeln seine Ziele erreicht hat? Dann kommen existentielle Probleme auf den Menschen zu: z.B. finanzielle. Wesentliche Begriffe in meiner Theorie, durch die ich mir selber meine Existenz bewiesen hatte, waren “Allokation” und “Distribution”, doch selber arbeitete ich erst einmal am Band, um überhaupt einen Abschluss machen zu können. Es hat sich aber leider erwiesen, dass geisttötende Arbeiten mir nicht dauerhaft helfen, mein Leben in den Griff zu bekommen. Weil diejenigen weiterhin Stellen in den Institutionen besetzen, die auch zukünftig denen, die in der Lage sind, sich selbst durch ihr Schaffen ihre Existenz zu beweisen, den Zutritt zu diesen Institutionen verbauen können oder (noch schlimmer) sie in goldene Käfige einsperren, durch die ihr Schaffen dauerhaft keine Wirkung entfalten kann. Dem Kampf aus dem Wege gehen, wenn man Wege für sich in der Welt gefunden hat, ist gleichbedeutend mit dem Tod und die Aasfresser lauern schon, sind von jenen Stellenbesetzern vielleicht sogar schon an günstigen Positionen dafür platziert worden.

Meine primäre Mediensozialisation war spätestens 1991 abgeschlossen. Ich öffnete mich auch weiter für neue Bereiche. Das würde ich aber eher als die Erweiterung einer Dominostrecke ansehen. Durch jeden hinzugefügten Dominostein wird das Vergnügen beim Betrachten des Umfallens der Dominosteine verlängert. Aber durch jedes Hinzufügen eines Dominosteins wird diese Strecke auch wieder neu erschaffen (sozusagen mit der Erweiterung neu instanziiert). Mich interessierten auch keine Wiederholungen, da dadurch kein neuer Dominostein hinzugekommen wäre und somit auch keine (erweiterte) Dominostrecke instanziiert worden wäre. Ich musste mich aber auch immer in dem wiederfinden, was ich mir zu Gemüte führte. EA80 z.B. schienen sich einerseits zu wiederholen, andererseits verstand ich die bewusste Wahl des textlichen Ausdruckes nicht mehr. Obwohl sie sich teilweise wiederholten, war mir die semantische Dimension ihrer Texte nicht mehr einsichtig. Bei den ersten drei LPs war mir die semantische Dimension nach mehrmaligem Hören fast völlig vertraut. Das muss auch nicht unbedingt an einem Mangel der neuen Musik und der neuen Texte von EA80 liegen, sondern es lag vielleicht noch mehr an mir, da ich nun einfach etwas Anderes in der Musik und den Texten suchte. Das sie mir nicht gaben. Ich selber traf eine Wahl und durch diese entschied ich mich für einen Pfad. Auf diesem Pfad sah ich neue Sachen und die Musik von EA80 konnte diesen neuen Sachen keine Umgebung schaffen, in der mein Interesse für sie wachgehalten wurde. Ich hätte immer wieder einen Schritt zurück machen müssen. Ich musste aber das Pendeln der Liane, ihren Schwung gerade ausnutzen, sonst hätte ich in der Luft gehangen und hätte mich irgendwann fallen lassen müssen.

In den Neunzigern gab es mit Blumfeld eine deutsche Band, deren Mastermind Jochen Distelmeyer hohe Ansprüche an seine Songtexte stellte. Musik und Text bildeten aber meist keine von vornherein natürliche Einheit wie bei EA80. Gerade wegen jenen hohen Ansprüchen. Ich fand es aber interessant. Die Musik von EA80 hatte mir jedoch in den Achtzigern mehr gegeben als die Musik von Blumfeld in den Neunzigern. Zu dem durchschnittlichen (Live-)Publikum von beiden Bands gehörte ich spätestens in der zweiten Hälfte der Neunziger nicht mehr. Es war mir fremd geworden.

So um 1991 wurde ich auch richtig böse auf die Musikjournaille, an derem Wirklichkeitssinn ich ernsthaft zweifelte. Die Gemeinsamkeiten brutzelten weg. Zu den wenigen Texten über Musik, die mir in den Neunzigern noch etwas brachten, gehörten Lebensberichte von u.a. schwarzen Musikern. Ich verstand einfach oft, warum die Musik etwas mit ihrem Leben zu tun hatte. Da ging es jedoch nicht um Rap und Hip Hop, sondern um Blues, Rock’n’Roll, Soul und Jazz älterer Herkunft und es stand eher das Leben im Vordergrund und nicht die Art der Musik. Gleichzeitig änderte sich meine Einstellung gegenüber Menschen anderer Rassen radikal. Als ich erstmals ernsthaft mit HipHop konfrontiert wurde (1982/1983), da empfand ich das als eine Herausforderung. Ich musste mein eigenes Kulturverständnis gegen das der stolzen Rapper von NewYork behaupten. Dafür bedurfte es aber meistens nur einer kleinen Anstrengung. Aber z.B. die Bad Brains, die konnte ich ja fast problemlos in mein eigenes Kulturverständnis integrieren. Hätte ich selber eine Band in der zweiten Hälfte der Achtziger gegründet und die Band auch zusammengestellt, dann wären z.B. ein weißer Saxophonist, ein japanischer Guitarrist, ein schwarzer polyrhythmischer Trommler, ein slawischer Keyboarder und ein indischer Bassist vielleicht keine schlechte Zusammenstellung gewesen (die Möglichkeit des Instrumententausches inbegriffen). Die Kreativitäten schienen mir zwischen allen Kulturen gleichwertig verteilt zu sein. In den Neunzigern änderte sich das. In der Abgabe von Zuständigkeiten sah ich keine Vorteile mehr. Ich sah im Gegenteil, wer von wem profitieren könnte. Und mein Profitieren von Schwarzen war so voraussetzungsvoll, dass ich es über das Lesen jener Biographien zwar organisieren konnte. Aber dadurch gehörten sie schon einer anderen Welt an. In dieser Welt spürte ich nicht, dass etwas durch Kompetenzenabgabe zu gewinnen wäre. Die Gravitation der Loyalitäten auf allen Seiten, auch auf der afrikanischen und der europäischen, zeigte mir die Grenzen hierfür deutlich auf. Dadurch wurde meine Achtung für schwarze Menschen nicht geringer. Erst jetzt machte ich die Unterschiede, die auch im Kontakt mit ihnen der Binnendifferenzierung in ihrer Kultur gerecht werden konnten. Es war also möglich, dass sie meine Achtung erwerben konnten. Das Konkurrenzverhältnis und die Aufteilung der Funktionen waren vielfältigen Interpenetrationsverhältnissen gewichen.

Für die Schwarzen, die sich an deutsche Frauen heranmachten und die Frauen, die sich das gefallen lassen wollten, hatte ich dagegen nur Verachtung übrig. Dadurch nehmen sie dem, wodurch ihnen Achtung entgegengebracht werden kann, jegliche Substanz. Dem war und bin ich mir bewusst und dieses Bewusstsein sollte ständig extensiver werden. Ich glaube zutiefst, dass es auch den Schwarzen bewusst ist. Wer aus einem Stamm kommt, dessen wesentliches Merkmal u.a. hohe ethnische Reinheit ist, und mit anderen aus anderen Stämmen ein Volk zu einem Mischlingsstamm machen will, der betreibt dessen bewusste Auslöschung.

Mit Hilfe meiner theoretischen Innovationen versuchte ich mir verschiedene Felder zu erschließen, u.a. auch die Musik. Im Jahre 1983 hatte ich schon eine Akustikguitarre geschenkt bekommen. Außerdem hämmerte ich in unserem Keller in der ersten Hälfte der Achtziger auf einer sehr einfachen ausrangierten Orgel herum. Vom Sound her dem Instrument von Daniel Johnston nicht unähnlich. Ich hatte aber nicht genug Fleiß, um der Guitarre mehr als nur Geräusch zu entlocken. Erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre lernte ich intensiver. Was kein leichtes Unterfangen für einen Endzwanziger ist. Ich setzte das mit langen Unterbrechungen fort. Zwar bereitete es mir Freude, doch auch jetzt noch dürften viele an dem Nutzen für die Menschheit zweifeln. Immerhin kann ich meine Guitarrenfertigkeiten dazu verwenden, das von mir mit Hilfe des Achsenkreises entworfene harmonische Lied-System auf seine Praxisadäquanz zu überprüfen.